- Handel
- von Professor Dr. Hendrik SchröderI. BegriffIn einer arbeitsteiligen Volkswirtschaft übernimmt der Handel die Aufgabe, räumliche, zeitliche, qualitative und quantitative Diskrepanzen zwischen der Produktion und der Konsumtion auszugleichen. In diesem weit gefassten Verständnis ist jeder Austausch von Gütern- und Dienstleistungen Handel bzw. Distribution, unabhängig davon, welche Betriebe ihn durchführen. Unterscheiden kann man zwischen Handel im funktionellen und im institutionellen Sinn. Funktioneller Handel liegt vor, „wenn Marktteilnehmer Güter, die sie i.d.R. nicht selbst be- oder verarbeiten (Handelswaren), von anderen Marktteilnehmern beschaffen und an Dritte absetzen“ (⇡ Katalog E.). Dies können z.B. auch Produktions-, Handwerks- und Landwirtschaftsbetriebe sein, die Handelswaren zukaufen, um ihr Absatzprogramm anzureichern. Betrachtet man diejenigen Betriebe, die sich überwiegend mit Handel im funktionellen Sinn befassen, spricht man von Handel im institutionellen Sinn.II. Geschichte der HandelsbetriebslehreDie Klassiker der Wirtschaftslehre fassten die Aufgaben, Leistungen und Institutionen der gewerblich tätigen Menschen unter der Bezeichnung Handel zusammen (Wirtschaft = Handel). Ideengeschichtlich stand die Lehre vom Handel stets im Spannungsverhältnis von Volkswirtschaftslehre und Betriebswirtschaftslehre, so dass die Geschichte des Handels im Grunde genommen sowohl als Geschichte der Volkswirtschaftslehre als auch als Geschichte der Betriebswirtschaftslehre zu verstehen wäre.Bis in das zweite Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ist die namentliche Identität von Betriebswirtschaftslehre und Handelsbetriebslehre festzustellen. So wurde noch in dieser Zeit an einigen deutschen Handelshochschulen die Privat- oder Betriebswirtschaftslehre unter der Bezeichnung Handelsbetriebslehre in den Vorlesungsverzeichnissen angekündigt. Eine bis auf die Gegenwart maßgebliche und umfassende Darstellung der Institutionen des Handels bietet im Jahre 1918 die Publikation von Hirsch „Der moderne Handel“. Die Zeit wurde für die Behandlung betriebswirtschaftlicher Spezialfragen des Binnenhandels als reif angesehen. Die Gründungen des Kölner Einzelhandelsinstituts (heute: Institut für Handelsforschung IfH)) sowie der Forschungsstelle für den Handel (FfH) in Berlin im Jahr 1929 kennzeichnen den Beginn der empirischen Handelsforschung in Deutschland.Die Handelsbetriebslehre als eine wirtschaftszweigspezifische Konkretisierung der Allgemeinen Betriebswirtschaftslehre muss versuchen, wie im übrigen alle Wirtschaftszweiglehren, sich die Erkenntnisse der so genantnen funktionellen Betriebswirtschaftslehren zu eigen zu machen und diese auf ihr Erkenntnisobjekt zu beziehen. Diese Forderung bedeutet, dass z.B. solche Gebiete zu integrieren sind, wie sie sich als betriebswirtschaftliche Beschaffungs- und Absatzlehre oder als Organisations- und Planungslehre herausgebildet haben. Schließlich ist die Handelsbetriebslehre unter dem Einfluss neuer Techniken der Information und Kommunikation weiter zu entwickeln (⇡ E-Commerce).III. Institutionen des HandelsDie große Vielfalt von Distributionsaufgaben führt zu einer kaum überschaubaren Fülle von Erscheinungsformen des institutionellen Handels. In Wissenschaft und Praxis besteht alles andere als ein einheitliches Begriffssystem. Zur Sicherung des Verständnisses, der Orientierung und der Vergleichbarkeit muss jede Systematisierung mit der Frage verbunden sein, für welchen Zweck sie benötigt wird. Denkbare Zwecke sind z.B. der nationale und der internationale Vergleich von Handelsbetrieben, um deren Entwicklung nachvollziehen oder prognostizieren zu können, die Analyse von Integrations- und Kooperationsformen des Handels, die Betrachtung des Wettbewerbsumfeldes und die Konzeption von Leistungsprogrammen, um sich gegenüber den Wettbewerbern zu profilieren. Typische Abgrenzungen bei den Erscheinungsformen sind Außen- und Binnenhandelsbetriebe, Groß- und Einzelhandelsbetriebe, integrierte und kooperierende Handelsbetriebe (Betriebsformen des Handels).IV. Ansätze der Handelsforschung1. Klassische AnsätzeZu den klassischen Ansätzen gehören der institutionenorientierte, der funktionenorientierte und der warenorientierte Ansatz. Ausprägungen der klassischen Institutionenorientierung sind die statisch-deskriptive Methode (Beschreibung und Systematisierung der Erscheinungsformen des Handels), die historisch-genetische Methode (Kennzeichnung der Entwicklung von Erscheinungsformen des Handels) und die Methode zur Erklärung des Wandels von Betriebsformen (z.B. M. McNair, Wheel of Retailing; R. Nieschlag, Dynamik der Betriebsformen; S. Berger, Store Erosion). Der funktionenorientierte Ansatz baut auf der Lehre der Handelsfunktionen auf. Ausgangspunkt ist die gesamtwirtschaftliche Aufgabe des Handels, die zwischen Produktion und Konsumtion bestehenden Diskrepanzen zu überbrücken und damit zu einer optimalen Güterversorgung in einer Volkswirtschaft beizutragen. Der warenorientierte Ansatz verwendet die Eigenschaften der Ware, um das Verhalten der Konsumenten zu erklären und Empfehlungen für die Gestaltung der Marketing-Instrumente abzuleiten.2. Moderne AnsätzeZu den jüngeren Ansätzen der betriebswirtschaftlichen Forschung, die sich auch auf Fragestellungen des Handels anwenden lassen, gehören die Ansätze der ⇡ Neuen Institutionenökonomik, der Ansatz des Relationship-Marketing, der ressourcenorientierte Ansatz und der prozessorientierte Ansatz. Der Transaktionskostenansatz, der wahrscheinlich in den letzten Jahren am häufigsten verwendete Ansatz, um Fragen der Distribution und des Handels zu beantworten, geht von der Idee aus, dass der institutionelle Handel dann produktiv und damit vorteilhaft ist, wenn es ihm gelingt, die Transaktionskosten der Nachfrager und/oder Anbieter zu senken. Transaktionskosten der Kommunikation und Information fallen für die Anbahnung, Vereinbarung, Abwicklung, Kontrolle und Anpassung des Leistungsaustausches an.V. Herausforderungen an das Management im HandelDas Management im Handel sieht sich einigen Rahmenbedingungen gegenüber, die sie von anderen Wirtschaftsstufen und Wirtschaftsbereichen unterscheiden. Erstens sind die standortspezifischen Einflüsse zu berücksichtigen. Jeder Standort zeichnet sich durch eigene Strukturen und Verhaltensweisen der Marktpartner aus. Diese Effekte multiplizieren sich, wenn Handelsunternehmungen über mehrere Betriebe verfügen, wie beispielsweise ⇡ Filialunternehmungen und ⇡ kooperative Gruppen des Handels. Zweitens muss jede Handelsunternehmung einen hohen sortimentsspezifischen Informationsbedarf decken, und zwar sowohl im Beschaffungs- als auch im Absatzbereich. Die Anforderungen wachsen mit der Breite und Tiefe des Sortiments, mit der Anzahl der im Sortiment vertretenen Branchen und mit der Vielfalt der geführten Vertriebslinien. Drittens hat das Handelsmanagement zahlreiche Abstimmungsprobleme zu bewältigen, die zwischen den Artikeln, den einzelnen Warengruppen, den verschiedenen Abteilungen innerhalb einer Betriebsstätte, der Handelszentrale und den Betriebsstätten, zwischen den Betriebsstätten sowie den Vertriebslinien auftreten. Ein Kernproblem ist die Koordination zwischen Einkauf und Verkauf (⇡ Category Management, ⇡ Efficient Consumer Response). Viertens bleibt den „Produkten“ des Handels – den Einkaufsstätten und ihren Angebotskonzepten – die Absicherung durch gewerbliche Schutzrechte weitgehend versagt.- Ausnahmen: Handelsmarken, Storebrands. Während Hersteller mit Patenten, Gebrauchsmustern und Geschmacksmustern technische und ästhetische Eigenschaften ihrer Produkte vor unzulässiger Nachahmung schützen können, kann sich eine Handelsunternehmung mit rechtlichen Mitteln nicht wehren, wenn ihr erfolgreiches Vermarktungskonzept „abgekupfert“ wird. Fünftens ist die Umstellungsflexibilität in kaum einem Wirtschaftssektor so groß wie im Einzelhandel. Wer allein das äußere Erscheinungsbild der Handelslandschaft einer Stadt betrachtet, wird feststellen, wie schnell Handelsunternehmungen in der Lage sind, bisherige Standorte aufzugeben, mit der Konkurrenz zu tauschen, zu verlagern oder an einem vorhandenen Standort das Betreibungskonzept radikal zu verändern. Die Umstellungsflexibilität der Konkurrenz wird nicht zuletzt auch durch fehlende Schutzrechte begünstigt, was ihnen die unverzügliche und legale Nachahmung erfolgreicher Praktiken erlaubt. Sechstens ist im Bereich der Personalführung auf die schwer steuerbare Verkaufsfunktion hinzuweisen. Die für den Erfolg der Handelsunternehmung relevante Interaktion zwischen dem einzelnen Verkäufer und dem Kunden ist schwierig zu kontrollieren, und die damit zusammenhängenden Motivations- und Koordinationsprobleme stellen höchste Anforderungen an die Führungskräfte. Die genannten Einflüsse steigen bei international tätigen Handelsunternehmungen. Kulturelle, politisch-rechtliche, ökonomische, natürliche und sonstige Umweltbedingungen treten in vielen Facetten auf. Selbst Bestrebungen, heterogene Wirtschaftsräume anzugleichen, wie beispielsweise innerhalb der Europäischen Union, werden an der Vielfalt der Einflüsse wenig ändern. So werden beispielsweise trotz aller Bemühungen, das Recht in den Mitgliedstaaten der EU zu harmonisieren und unterschiedliches Recht anzuerkennen, weiter teilweise erhebliche Unterschiede in den Rechtsordnungen bestehen bleiben.VI. Entwicklungen im HandelKonzentration und Marktmacht großer Unternehmungen bestimmen maßgeblich die Entwicklung im Handel. So erzielten die zehn größten Handelsunternehmungen im Lebensmittelbereich in Deutschland 2002 einen Anteil am Gesamtumsatz (201,5 Mrd. Euro) von 84,4 Prozent nach 81,9 Prozent (1997), 79,4 Prozent (1995) und 67 Prozent (1991). Ähnliche Entwicklungen verzeichnen andere europäische Länder. Zentrale Ursachen hierfür sind das innere Wachstum großer Handelssysteme (z.B. Aldi, Lidl, Schlecker), das äußere Wachstum durch Akquisitionen (z.B. Metro, Rewe), Marktaustritte kleiner Handelsunternehmungen (Preis- und Kostendruck, Ineffizienz, Nachfolgeprobleme) und der Markteintritt finanzstarker ausländischer Handelsunternehmungen (z.B. IKEA, Hennes & Mauritz, WalMart).Die Kunden des Einzelhandels fördern mit ihrem Verhalten teilweise den Konzentrationsprozess. Der Trend zum Großeinkauf infolge gestiegener Mobilität und die Forderung nach Beschaffungsökonomisierung begünstigen die Gründung großflächiger Betriebsformen. Des Weiteren übertrifft die von einigen Kundengruppen geforderte Sortimentsvielfalt zu niedrigen Preisen die Möglichkeiten kleiner und mittlerer Unternehmungen und hilft der Verbreitung von Discountern. Demgegenüber steht der Wunsch nach individueller Beratung und Erlebniskäufen, die grundsätzlich auch kleineren und mittleren Handelsbetrieben Marktzutrittschancen bieten. Diese Chance greifen jedoch häufig die Großuntermehmungen durch eine Betriebsformendiversifikation auf, was zu einer branchenübergreifenden Konzentration führt.Schließlich sind es technische Neuerungen, die zur Unterstützung von Informations-, Güter- und Zahlungsströmen eingesetzt werden und sowohl das Anbieter- als auch das Nachfragerverhalten verändern. Diese Neuerungen beeinflussen die Struktur im Handel, wie es z.B. an der Entwicklung von Multichannel-Retailern abzulesen ist. Stationäre Einzelhändler, so genannte Brick & Mortar-Anbieter, stoßen in den elektronischen Absatzkanal vor und werden zu so genannten Click & Mortar-Händlern (z.B. Tengelmann, Schlecker, Rossmann, Media Markt). Betreiber von klassischen Mehrkanalsystemen erweitern ihre Vertriebskanäle um elektronische Shops (z.B. Conrad Electronic, Ikea, Otto, Quelle, Tchibo). Einzelhändler, die bislang ausschließlich den elektronischen Kanal genutzt haben, erwerben Ladengeschäfte, wie z.B. beautynet oder die Pixelnet AG (Insolvenz 2002), die im Februar 2001 Photo Porst übernahm und somit aus dem Stand heraus über weltweit 2.000 Geschäfte verfügte. Auch sind die so genannten „Pure Player“ zusätzlich zum Katalog-Verkauf übergegangen, wie z.B. shoes24.com und – bis zu ihrem Marktaustritt – vitago.de. Stationäre Händler (z.B. OBI) kooperieren mit erfahrenen Mehrkanalbetreibern (z.B. Otto) und verschaffen sich damit den Zugang zu Mehrkanalsystemen (in diesem Beispiel OBI\@Otto). Manche Händler betreiben drei, vier oder mehr Absatzkanäle und bieten ihren Kunden so die Möglichkeit, sich zu jeder Zeit, an jedem Ort über jede gewünschte Ware zu informieren und diese zu kaufen.Literatur: Ahlert, D./ Olbrich, R./ Schröder, H. (Hrsg.), Vertriebs- und Handelsmanagement, Jahrbücher seit 2001; Barth, K./ Hartmann, M./ Schröder, H., Betriebswirtschaftslehre des Handels, 5. Aufl., Wiesbaden 2002; Beisheim, O. (Hrsg.), Distribution im Aufbruch, München 1999; Dichtl, E., Grundzüge der Binnenhandelspolitik, Stuttgart, New York 1979; Dichtl, E./ Lingenfelder, M. (Hrsg.) Meilensteine im deutschen Handel, Frankfurt a.M. 1999; Gümbel, R., Handel, Markt und Ökonomik, Wiesbaden 1985; Katalog E. Begriffsdefinitionen aus Handels- und Absatzwirtschaft, 4. Ausg., Köln 1995; Lerchenmüller, M., Handelsbetriebslehre, Ludwigshafen 1991; Liebmann, H.-P./ Zentes, J., Handelsmanagement, München 2001; Müller-Hagedorn, L., Der Handel, Stuttgart 1998; Olbrich, R., Unternehmenswachstum, Verdrängung und Konzentration im Konsumgüterhandel, Stuttgart 1998; Schenk, H.O., Marktwirtschaftslehre des Handels, Wiesbaden 1991; Schenk, H.O., Handelspsychologie, Göttingen 1995; Schröder, H., Handelsmarketing, Landsberg 2002; Schröder, H., Multichannel-Retailing, Berlin u.a. 2004; Theis, H. J., Handels-Marketing, Frankfurt a.M. 1999; Treis, B., Institutionen- und Funktionslehre des Handels, Göttingen 1997; Treis, B., Handelsmanagement, Göttingen 1998, Treis, B., Handelsmarketing, Göttingen 2000; Trommsdorff, V. (Hrsg.), Handelsforschung, Jahrbücher der Forschungsstelle für den Handel (FfH) seit 1986. Literatursuche zu "Handel" auf www.gabler.de
Lexikon der Economics. 2013.